Die geheime Frau
Nach zehnjähriger Pause ist Irene Rodrian, die erste deutsche Krimischriftstellerin, wieder da
07. Mai 2006
Irene Rodrian zuckt mit den Schultern. "Ich fange wieder beim Nullpunkt an", sagt sie. Damit hatte sie nicht gerechnet. "Mich hat überrascht, wie schnell man vergessen ist. - Nach gerade mal zehn Jahren." Leser, die jünger sind als 45, haben den Namen noch nie gehört. "Irene wer?" fragen sie. Dabei war die große kräftige Frau in den 70er und 80er Jahren in der Bundesrepublik eine der ganz Großen der Kriminalliteratur. Als deutsche Antwort auf Patricia Highsmith haben Fans und Kritiker in den Zeitungen sie damals gefeiert. Das war gewiß übertrieben. So fein wie Highsmith schrieb Irene Rodrian nie. Aber mit Gefühl für seelische und psychische Schwebezustände. Verzwickte Fälle, die von klugen Detektiven aufgelöst werden, waren ihre Sache nicht. "Mit Agatha Christie konnte ich früher nicht viel anfangen", sagt sie. "Heute finde ich ihre Romane toll." Damals, vor zwanzig, dreißig Jahren, waren die junge Ehefrau, die Mitläufer, die durch Untätigsein schuldig werden, die Helden ihrer Romane. Rodrian suchte Antworten auf die Frage, warum Menschen zum Verbrecher werden. "Mich haben immer die Opfer interessiert, gerade wenn sie dann zu Tätern werden", sagt sie heute.
Nachdem sie mehr als zwanzig Thriller veröffentlicht hatte, verstummte sie Anfang der neunziger Jahre plötzlich. Zwar schrieb Irene Rodrian weiter Drehbücher und zehrte von ihrem Ruhm als Kinderbuchautorin. Doch gerade in der Zeit, als der Kriminalroman auch von deutschen Schriftstellern entdeckt wurde, verschwand sie von der Bühne. Jetzt kommt die erste deutsche Krimiautorin endlich wieder zurück. In diesen Tagen ist im Heyne-Verlag ihr neuer Roman "Eisiges Schweigen" erschienen. Eines fällt den Lesern, die die "alte" Irene Rodrian kennen, bei der Lektüre sofort auf: Sie schreibt andere Geschichten als früher. Statt an der von ihr verehrten Patricia Highsmith orientiert sie sich jetzt stärker an den klassischen Mustern der Detektivgeschichte. Agatha Christie ist jetzt eher eine Patin für die zweite Krimikarriere der Irene Rodrian. Bei der Britin ermittelt Miss Marple in der englischen Provinz, bei Irene Rodrian sind es fünf Frauen der Privatdetektei "Llimona 5" in Barcelona.
Warum ausgerechnet Barcelona? "Ich wollte sehen, was fünf Frauen in so einer Macho-Stadt erleben", sagt die 1937 in Berlin geborene Autorin. "Barcelona ist jung und vital. Ich kenne keine Stadt neben Berlin, die sich so rasant verändert wie Barcelona." Rodrian kennt Barcelona gut. Seit Anfang der 60er Jahre lebt sie die Hälfte des Jahres in München, die andere Hälfte auf der Insel Formentera, Barcelona ist da die nächste Stadt. Hier schreibt sie ihre Krimis.
Erst mal Jerry Cotton
Schon als Jugendliche war sie von dem Genre Kriminalroman fasziniert. Nach einigen Jahren in einer Werbefirma und einer Zeit als selbständige Werbeberaterin und Grafikerin in München, beschloß Irene Rodrian in den sechziger Jahren, vom Schreiben zu leben. Es begann mit Jerry-Cotton-Heften. Zehn "Jerry-Cotton-Stories" hat sie zwischen 1962 und 1964 geschrieben. Mit diesen Verbrecherjagden des stahlharten FBI-Agenten Jerry Cotton lernte sie das Handwerk des Krimischreibens. Tausend Mark für 64 Seiten, das war damals viel und schnell verdientes Geld.
Doch unter eigenem Namen konnte die besessene Krimiliebhaberin nichts veröffentlichen. Frauen als Krimiautorinnen? Trotz der großen Damen der englischen Krimiliteratur wie Agatha Christie, Margery Allingham oder Dorothy Sayers schien das in der Bundesrepublik der sechziger Jahre undenkbar. Damals gab es überhaupt erst drei Autoren, die den deutschen Kriminalroman in der renommierten Krimireihe "rororo-Thriller" neu belebt hatten: Hansjörg Martin, Friedhelm Werremeier und Michael Molsner.
Auch der Münchner Goldmann-Verlag suchte zu dieser Zeit mit seinem Edgar-Wallace-Krimipreis nach eigenen deutschen Autoren. Zu dieser Ausschreibung reichte die damals dreißigjährige Irene Rodrian gleich zwei Manuskripte ein. "Ich wollte diesen Preis", sagt sie. Der Verlag wußte die Namen der Einsender nicht, es gab nur Kennziffern. Eines der Manuskripte, "Bis morgen, Mörder", war so geschrieben, wie Irene Rodrian sich einen guten Krimi dachte. Der andere Krimi, den sie auf der Terrasse ihres Hauses auf Formentera schrieb, war so, "wie ich mir ausgerechnet habe, daß man einen Preis kriegt".
Für Frauen nur die Hälfte
"Als hätte es ein Mann geschrieben", sagt sie heute zu dem Roman, der unter dem Titel "Tod in St. Pauli" 1967 tatsächlich den Wettbewerb gewann. ",Bis morgen, Mörder' kam sofort wieder zurück, und ich habe den Roman an Rowohlt geschickt", erzählt Rodrian: "Und gewann mit ,Tod in St. Pauli" den ersten Preis." Der Plot: Paul, ein Kleinganove, ist Anfang Zwanzig und gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Paul ist von seinen Kumpels reingelegt worden. Er hat sie nicht verpfiffen, nun sinnt er auf Rache. Doch die alten Kumpane verpassen ihm erst einmal eine Tracht Prügel. Mord und Totschlag folgen. Drei Tote gibt es am Ende. Doch kaum stellte sich heraus, daß eine Frau diesen Krimi geschrieben hatte, gab es Probleme. "Der Verleger meldete sich und sagte, ,geben Sie es zu, Frau Rodrian, diesen Roman hat ihr Mann geschrieben'. Er war überzeugt, daß nur ein Mann so einen Krimi schreiben konnte. Er hat dann das auf 5000 Mark angesetzte Preisgeld auf 3000 Mark gekürzt", berichtet Rodrian und lacht. "Das waren Zeiten. Aber es gab in Deutschland wirklich noch keine Frau, die Kriminalromane schrieb." Darauf ist Irene Rodrian stolz: Sie war und ist die erste deutsche Krimischriftstellerin.
Mit "Tod in St. Pauli" setzte sie sich nach langen Enttäuschungen durch. Jürgen Roland, der damals mit seinen "Stahlnetz"-Krimis im Fernsehen für menschenleere Straßen in Deutschlands Städten sorgte, meldete sich und wollte den Krimi verfilmen. Auf Formentera gab es zu dieser Zeit praktisch nur ein Telefon. Das war in einer Gaststätte. "Ich saß vor einem lauwarmen Sherry, überall summten die Fliegen, und wartete", berichtet Irene Rodrian. "Dann läutete es. Roland begann. ,Gnädige Frau, ich wollte . . .'" Rodrian kam über ein "Ja, ja" nicht hinaus - und bumms war die Leitung unterbrochen. "So ging das noch einige Male", sagt Rodrian. Roland wurde immer aufgeregter, sie immer lakonischer. Am Ende wurden die Filmrechte teuer verkauft, der Film aber nie gedreht. Doch nach dem Erfolg mit "Tod in St. Pauli" folgte schnell ein Vertrag mit Rowohlt. Krimis von Irene Rodrian erschienen nun in dichter Folge, manchmal sogar zwei im Jahr. Die Kritik lobte sie, sofern sie deutsche Autoren überhaupt zur Kenntnis nahm. Rodrians Krimis waren psychologische Porträts der westdeutschen Wirtschaftswunder-Gesellschaft. "Ich wollte den Leser mit meinen Romanen schon dazu bringen, daß er sich mit einer Person auseinandersetzt, die er im wirklichen Leben nicht mit der Feuerzange anfassen würde", sagt die Autorin heute.
Endlich wieder morden
Ihre neue Serie ist anders. "Mit der Llimona-5-Serie habe ich fünf Detektivinnen." Pia Cortes ist Mitte Dreißig, war erfolgreiche Ermittlerin bei der Kripo, bis sie als Privatdetektivin ein neues Leben begann. Unterstützt wird sie von Janet Howard, einer englischen Journalistin, Mitte Fünfzig, die von den Männern geliebt wird. Dazu kommt Dagmar Warwitz, Mitte Dreißig, eine etwas zerstreute, aber erfolgreiche Anwältin. Barbara Dyckhoff, Mitte Zwanzig, die einmal die beste Taschendiebin Barcelonas war, und Anna Guzmann, gerade mal 17 Jahre alt, vervollständigen das Team. Als der List-Verlag in München 2002 eine neue Krimireihe startete, in der Frauen eine Rolle spielen sollten, paßten Rodrians fünf Frauen gut ins Konzept. Doch der erste Versuch, mit dem sie sich aus der Vergessenheit wieder herausschreiben wollte, scheiterte. Kaum hatte sie wieder angefangen, wurde der List-Verlag verkauft. Die Krimis landeten im Ramsch. "Der Neustart war ein Schlag ins Wasser", sagt Rodrian. Bei Heyne folgt jetzt der dritte Roman ihrer Llimona-5-Serie, mit dem sie sich endlich wieder ins Bewußtsein der Krimileser bringen will.
Ihre alte Klasse erreicht sie mit "Eisiges Schweigen" noch nicht wieder. Vielleicht liegt das auch daran, daß sie jetzt eher klassische whodunits schreibt, von denen sie früher einmal gesagt hat, daß sie sie nicht interessierten. Dabei sind die Themen ihrer Krimis aktuell. In "Eisiges Schweigen" wird während eines internationalen Kongresses die schöne und erfolgreiche Ärztin Lidia Pastor tot in ihrem von innen verschlossenen Hotelzimmer aufgefunden. Mord in einem verschlossenen Zimmer, Neid unter Ärzten: klassischer kann ein Krimi kaum sein. Anfang 2007 soll die nächste Llimona-5-Geschichte erscheinen. Diesmal geht es um stalking. "Danach schreibe ich vielleicht auch wieder was anderes, psychologischer oder einen ganz anderen Krimi", sagt sie. "Ich habe da schon Ideen."
CARSTEN GERMIS
Irene Rodrian: "Eisiges Schweigen". Heyne-Verlag 2006. 332 Seiten, 7,95 Euro.
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 07.05.2006, Nr. 18 / Seite 32 -> Quelle